„Über ein Kleines werdet ihr mich sehn.“
Ich seh‘ dich nicht!
Wo bist du denn, o Hort, o Lebenshauch?
Kannst du nicht wehen, daß mein Ohr es hört?
Was nebelst, was verflatterst du wie Rauch,
Wenn sich das Aug‘ nach deinen Zeichen kehrt?
Mein Wüstenlicht,
Mein Aronsstab, der lieblich könnte grünen,
Du tust es nicht;
So muß ich eigne Schuld und Torheit sühnen.
Heiß ist der Tag;
Die Sonne prallt von meiner Zelle Wand.
Ein traulich Vöglein flattert ein und aus,
Sein glänzend Auge fragt mich unverwandt:
Schaut nicht der Herr zu diesen Fenstern aus?
Was fragst du nach?
Die Stirne muß ich senken und erröten.
O bittre Schmach!
Mein Wissen mußte meinen Glauben töten.
Die Wolke steigt,
Und langsam über den azurnen Bau
Hat eine Schwefelhülle sich gelegt.
Die Lüfte wehn so seufzervoll und lau,
Und Angstgestöhn sich in den Zweigen regt;
Die Herde keucht.
Was fühlt das stumpfe Tier? Ist’s deine Schwüle?
Ich steh‘ gebeugt;
Mein Herr, berühre mich, daß ich dich fühle!
Ein Donnerschlag!
Entsetzen hat den kranken Wald gepackt.
Ich sehe, wie im Nest mein Vogel duckt,
Wie Ast an Ast sich ächzend reibt und knackt,
Wie Blitz an Blitz durch Schwefelgassen zuckt.
Ich schau‘ ihm nach;
Ist’s deine Leuchte nicht, gewaltig Wesen?
Warum denn, ach,
Warum nur fällt mir ein, was ich gelesen?
Das Dunkel weicht,
Und wie ein leises Weinen fällt herab
Der Wolkentau; Geflüster fern und nah,
Die Sonne senkt den goldnen Gnadenstab,
Und plötzlich steht der Friedensbogen da.
Wie? Wird denn feucht
Mein Auge? Ist nicht Dunstgebild der Regen?
Mir wird so leicht!
Wie? Kann denn Halmes Reibung mich bewegen?
Auf Bergeshöhn
Stand ein Prophet und suchte dich wie ich:
Da brach ein Sturm der Riesenfichte Ast,
Da fraß ein Feuer durch die Wipfel sich;
Doch unerschüttert stand der Wüste Gast.
Da kam ein Wehn
Wie Gnadenhauch, und zitternd überwunden
Sank der Prophet
Und weinte laut und hatte dich gefunden.
Hat denn dein Hauch
Verkündet mir, was sich im Sturme barg,
Was nicht im Blitze sich enträtselt hat:
So will ich harren auch. Schon wächst mein Sarg,
Der Regen fällt auf meine Schlummerstatt!
Dann wird wie Rauch
Entschwinden eitler Weisheit Nebelschemen,
Dann schau ich auch,
Und meine Freude wird mir niemand nehmen.
aus: Annette von Droste-Hülshoff – Das geistliche Jahr