Die Würfel sind gefallen. Wir, also ich, haben entschieden: Heute gibt es Kartoffelsalat, denn zu einem erlesenen Weihnachtsschmaus gehört Kartoffelsalat. Das ist Tradition.
Aber kaum einer erinnert sich mehr daran, wie es zu diesem Brauchtum kam.
Aus diesem Grund habe ich gewissenhaft recherchiert und kann nun stolz die Geschichte der Erfindung des Heiligabendkartoffelsalats präsentieren.
Weil ich den Heiligabendkartoffelsalat erfunden habe.
Der Heiligabendkartoffelsalat
Vor langer, langer Zeit, als grade eben die Kartoffel in Deutschland heimisch ward, und schon ganz viele Menschen nach Genuss der Kartoffelfrüchte gestorben waren – lebte eine Bärin namens Anni mit ihrer Familie im tiefen Wald. Es war ein bitterkalter Winter, so kalt, dass die Kälte sogar die Winterruhe der Bären (mit Ausnahme des Dicken, Annis aller, aller bester Freund) verhinderte.
Anni lag in ihrem Bett und versuchte zu schlafen, aber es gelang ihr nicht. „Mist!“, fuhr es ihr plötzlich durch den Kopf, „was ist, wenn der Dicke jetzt wach wird und Hunger hat? Was ist, wenn ich grade jetzt feststellen muss, dass ich auch Hunger habe?“
Keine nullkommafünf Sekunden später schnürte Anni durch den tief verschneiten Wald, auf der Suche nach etwas Essbarem.
Nach Stunden vergeblicher Suche sah Anni plötzlich ein fernes Licht leuchten. „Guck an“, dachte Anni, „Menschen! Da habe ich ausgesorgt“. Doch dann fiel Anni ein, dass sie Vegetarierin war, und Menschen gar nicht auf ihrem Speiseplan vorkamen. Aber, dachte Anni frohen Mutes, „wo Menschen sind, da ist bestimmt auch etwas Essbares zu finden.
Also schlich Anni sich ganz vorsichtig an und spähte durch das Fenster des Hauses. Drinnen war ein armselig möblierter Raum, ein wackliger Tisch und ein leerer Teller darauf, zu sehen.
„Die sind ja noch ärmer dran als ich“, dachte Anni, „aber vielleicht finde ich etwas genießbares, wenn ich mich hier umschaue“, und so war es auch.
In einer wind- und schneegeschützten Ecke fand Anni einen Misthaufen und am Rand des Misthaufens ein Plakat mit Totenkopf und den von zittriger Hand verfassten Worten: „forsischt givt“. Daran erkannte Anni sofort, dass die Rechtschreibung noch nicht erfunden war.
Dann aber entfuhr es ihr: „Potzblitz, das sind ja Kartoffeln, die nehme ich mit und mache uns daraus ein leckeres Kartoffelgericht!“ Natürlich wusste Anni instinktiv, dass sie von den Kartoffeln nur die Knollen, nicht aber die Früchte essen durfte.
Grade als Anni die Kartoffeln schulterte und sich auf den Heimweg machen wollte, hob im Stall neben dem Misthaufen ein ungeheures Gezeter an. Neugierig blickte Anni in den Stall und sah eine junge Ente, die ein riesiges Ei ausbrütete.
„Was schreist du so grässlich?“ fragte Anni die Ente, die sich bei näherem hinschauen als ziemlich jung, fast noch ein Kücken, erwies.
„Was soll ich nicht schreien, kreischen und zetern“, schrie das Kücken, „ich bin zu Höherem berufen, als taube Eier auszubrüten … ich möchte Karriere machen … als Schauspielerin!“
„Das kann ich gut verstehen“, antwortete Anni, „aber dein Problem verstehe ich nicht. Warum gehst du nicht zu einer Schauspielschule und lernst die Schauspielerei? Um das Ei werde ich mich kümmern … und die Gurke, die Zwiebel und die Flasche Maiskeimöl nehme ich ebenfalls mit.“
„Das würdest du für mich machen?“ fragte das Kücken entzückt, „dann mache ich, dass ich wegkomme und mit meiner Schauspielausbildung beginne. Das ist herrlich, heute ist ein ganz besonderer Tag“. Nach einer Kunstpause sagte das Kücken dann: „Ach ja, das ist kein Maiskeimöl, das ist biodynamisches Sonnenblumenöl“, und hast du nicht gesehen, war das Kücken verschwunden.
Noch auf dem Rückweg zu ihrer Bärenhöhle entwickelte Anni aus den Zutaten, Kartoffeln, Ei, Zwiebel, Sonnenblumenöl und Gurke ein schmackhaftes Menü. Und das ging so:
Die Kartoffeln kochen, dann pellen und in mundgerechte Stücke schneiden.
Die Zwiebel schneiden und in kleine Stücke hacken.
Die Gurke waschen oder wahlweise schälen und in kleine Stücke schneiden.
Alle Zutaten in einen Topf, dann das Ei aufschlagen und trennen. Das Eigelb kräftig schlagen und tröpfchenweise Öl und Essig zugeben. Mit Salz und Pfeffer abschmecken und dann die so entstandene Mayonnaise über die Kartoffeln gießen.
Voila: Ein lecker Kartoffelsalat!
Genauso wie Anni das köstliche Essen ausgedacht hatte, geschah es dann auch. In ihrer Bärenhöhle bereitete sie einen wunderbaren Kartoffelsalat. Zwar fluchte Anni ab und zu leise vor sich hin, weil die Menschen noch keine Elektrizität und keine elektrischen Küchengeräte erfunden hatten, aber als dann der herrlich duftende Kartoffelsalat fertig war, da war auch alle Mühsal vergessen.
Der Duft des Kartoffelsalates weckte sogar den Dicken und gemeinsam aßen sie, bis sie pappsatt waren.
Schließlich sagte Anni zum Dicken: „Heute muss ein besonderer Tag sein, irgendetwas ist anders als sonst … schöner … fröhlicher“.
„Das ist kein Wunder“, antwortete der Dicke, „ich bin ja aufgewacht!“.
„Das gehört dazu … und auch das Kücken, dem ich helfen konnte“, sagte Anni, „aber das meine ich nicht. Etwas liegt heute in der Luft, etwas ist anders … hoffnungsfroh.“
Nach einer langen, schweigsamen Pause sagte Anni zum Dicken: „Es ist noch soviel Kartoffelsalat übrig geblieben. Den werde ich jetzt nehmen und dem armen Bauern bringen. Der freut sich bestimmt, wenn er etwas schönes zu Essen bekommt“.
Und so geschah in jener ereignisreichen Nacht, das Anni den Kartoffelsalat und Weihnachtsanni erfand.
Es war der 24. Dezember 1631, bitterkalt und mitten im dreißigjährigen Krieg.
Guten Appetit und fröhliche Weihnacht!
Anni Freiburgbärin von Huflattich