Annette von Droste-Hülshoff – Am ersten Sonntage nach Ostern

Evang.: Jesus geht durch verschlossene Türen

und spricht: „Der Friede sei mit Euch!“
Und hast du deinen Frieden denn gegeben
An Alle, die dich sehnen um dein Heil,
So will ich meine Stimme auch erheben:
Hier bin ich, Vater, gib mir auch mein Teil!
Warum sollt‘ ich, ein ausgeschloß‘nes Kind,
Allein verschmachtend um mein Erbe weinen?
Warum nicht sollte deine Sonne scheinen,
Wo doch im Boden gute Keime sind?

Jesus geht durch verschlossene Türen

Oft mein‘ ich zwar, zum Beten sei genommen
Mir alles Recht, da es so trüb und lau;
Mir könne nur geduldig Harren frommen
Und starrer Aufblick zu des Himmels Blau:
Doch Herr, der du dem Zöllner dich gesellt,
O laß nicht zu, daß ich in Nacht verschwimme;
Dem irren Lamme ruft ja deine Stimme,
Und um den Sünder kamst du in die Welt.

Wohl weiß ich, wie es steht in meiner Seelen,
Wie glaubensarm, wie trotzig und verwirrt,
Wohl weiß ich, daß sich manches mochte hehlen;
Ich fühle, wie es durch die Nerven schwirrt,
Und kraftlos folg‘ ich seiner trüben Spur.
Mein Helfer, was ich nimmer mag ergründen,
Du kennst es wohl, du weißt es wohl zu finden,
Du bist der Arzt, ich bin der Kranke nur.

Und hast du tief geschaut in meine Sünden,
Wie nicht ein Menschenauge schauen kann;
Hast du gesehn, wie in den tiefsten Gründen
Noch schlummert mancher wüste, dunkle Wahn:
Doch weiß ich auch, daß keine Trän‘ entschleicht,
Die Deine treue Hand nicht hat gewogen,
Und daß kein Seufzer dieser Brust entflogen,
Der dein barmherzig Ohr nicht hat erreicht.

Du, der verschloßne Türen kann durchdringen,
Sieh, meine Brust ist ein verschloßnes Tor.
Zu matt bin ich, die Riegel zu bezwingen;
Doch siehst du, wie ich angstvoll steh‘ davor.
Brich ein, brich ein! O komm mit deiner Macht,
Laß Liebe gelten, da gering der Glaube,
O laß mich schauen deine Friedenstaube,
Laß fallen deinen Strahl in meine Nacht!

Nicht weich‘ ich, eh‘ ich einen Schein gesehen,
Und wär‘ er schwach wie Wurmes Flimmer auch;
Und nicht von dieser Schwelle will ich gehen,
Bis ich vernommen deiner Stimme Hauch.
So sprich, mein Vater, sprich denn auch zu mir
Mit jener Stimme, die Maria nannte,
Als sie verkennend, weinend ab sich wandte,
O sprich: „Mein Kind, der Friede sei mit dir!“

aus: Annette von Droste-Hülshoff – Das geistliche Jahr

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