Am Montag in der Charwoche

Evang.: Vom verdorrten Feigenbaume

„Wie stehst du doch so dürr und kahl,
Die trocknen Adern leer,
O Feigenbaum!
Ein Totenkranz von Blättern fahl
Hängt rasselnd um dich her
Wie Wellenschaum.“ –
„O Mensch, ich muß hier stehn, ich muß
Dich grüßen mit dem Todesgruß,
Daß du das Leben fassest,
Es nicht entlassest!“

Rosensteinpark
Keine Feigenbäume, aber kahl

„Wie halt ich denn das Leben fest,
Daß es mir nicht entrinnt,
O Feigenbaum?“ –
„O Mensch, der Wille ist das Best‘,
Die wahre Treu gewinnt!
Hältst du im Zaum
Die Hoffahrt und die Zweifelsucht,
Die Lauheit auch in guter Zucht:
Muß dir in diesem Treiben
Das Leben bleiben.“

„Wie bist du denn so völlig tot,
So ganz und gar dahin,
O Feigenbaum?“ –
„O Mensch, wie üpp’ges Morgenrot
Ließ ich mein Leben ziehn
Am Erdensaum,
Und weh, und dachte nicht der Frucht!
Da hat mich Gott der Herr verflucht,
Daß ich muß allem Leben
Ein Zeugnis geben.“

„Wer hat dir Solches zubereit‘
Durch heimlichen Verrat,
O Feigenbaum?“ –
„O Mensch, des Herren Aug‘ sieht weit.
Es sieht des Würmleins Pfad
In Blattes Flaum!
Ihm kannst du nicht entdecken, noch
Entziehn, er sieht und weiß es doch;
Es lag schon auf der Waage
Am ersten Tage.“

„Du starbest wohl vor langer Zeit,
Weil du so dürr und leer,
O Feigenbaum?“ –
„O Mensch, des Herren Hand reicht weit,
Und ist so schnell und schwer,
Du siehst es kaum!
Er nimmt dir seines Lebens Hauch,
Du mußt vergehn wie Dunst und Rauch,
Er braucht nicht Wort noch Stunden,
Du bist verschwunden.“

„Wo bleibt denn seine große Huld,
Was fruchtet denn die Reu‘,
O Feigenbaum?“ –
„O Mensch, gedenk an deine Schuld,
Gedenk an seine Treu!
Schau, in den Raum
Hat er mich gnadenvoll gestellt,
Daß ich durch seine weite Welt
Aus meines Elends Tiefe
Dir warnend riefe.“

„Steht denn kein Hoffen mehr bei dir,
Kein Hoffen in der Not,
O Feigenbaum?“ –
„O Mensch, kein Hoffen steht bei mir;
Denn ich bin tot, bin tot!

O Lebenstraum,
Hätt‘ ich dein schweres Sein gefühlt,
Hätt‘ ich nicht frech mit dir gespielt:
Ich stände nicht gerichtet,
Weh‘ mir, vernichtet!“

aus: Annette von Droste-Hülshoff – Das geistliche Jahr

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