Burnout

Menschen sind wunderlich. Meine Annisekretärin gehört dazu. Bis gestern hatte sie Auge, Blase, Schulter und Husten. Aber das reichte ihr nicht. Gestern, am späten Abend dann der erlösende Artikel: Burnout!

Nur ein Traum
Krankheit in Coronazeiten

Zur Zeit liegt sie im Bett und pflegt ihr „Burnout“. Alle haben Burnout, nur sie hatte es bisher nicht, dass ging nicht.

Meine Annisekretärin ist sehr empfänglich für Krankheiten, von denen sie gelesen hat. Das Phänomen ist nicht neu. Der eingebildete Kranke ist so alt wie die Menschheit selbst.

Jerome K. Jerome hat in seiner unvergleichlich britisch humorvollen Art dieses Symptom beschrieben. Diagnose: Burnout. Leicht zu kurieren, ein gutes Steak reicht:

Wir waren unsrer viere – Georg William, Samuel Harris, meine Wenigkeit und Montmorency – und saßen zusammen in meiner Wohnung, rauchten Zigarren und Pfeifen, und unterhielten uns von der Verderbtheit unserer Naturen – Verderbtheit in gesundheitlicher Beziehung meine ich natürlich.

Wir fühlten uns allesamt mit Übeln behaftet, was uns entschieden in eine nervöse Aufregung versetzte. Harris sagte, er bekomme öfters solche außerordentliche Schwindelanfälle, daß er kaum mehr wisse, wo ihm der Kopf stehe; dann sagte Georg, auch er habe Schwindelanfälle, daß er kaum mehr wisse, wo ihm der Kopf stehe. Bei mir war es die Leber, die nicht in Ordnung war. Ich war sicher, daß meine Leber nicht in Ordnung wäre, da ich gerade vorher ein Zirkular über patentierte Leberpillen gelesen hatte, worin die verschiedenen Symptome ganz genau angegeben waren, an denen man ganz sicher erkennen konnte, ob die Leber in Ordnung sei oder nicht. Alle diese Symptome zeigten sich bei mir.

Es ist wirklich äußerst merkwürdig, daß ich niemals die Ankündigung irgendeines patentierten ärztlichen Mittels habe lesen können, ohne sofort zu der Überzeugung zu gelangen, ich leide in hohem Grade an dem besonderen Übel, wofür in dem angekündigten Mittel die Heilung angeboten wurde. Die Diagnose scheint in jedem Fall mit meinen spezifischen Empfindungen übereinzustimmen. Ich erinnere mich, daß ich eines Tages ins Britische Museum gegangen war, um dort die Behandlung eines leichten Übels – ich glaube, es war Heuschnupfen – nachzulesen. Ich holte mir das betreffende Buch herunter und las alles, was darüber zu lesen war; dann wandte ich gedankenlos und nachlässig das Blatt um und begann gleichgültig andere Krankheiten zu studieren. Ich habe vergessen, welche Krankheit mir zuerst aufstieß; ich weiß nur noch, daß es eine fürchterliche, pestartige Krankheit war; und ehe ich auch nur die Hälfte der allgemeinen Kennzeichen gelesen hatte, war ich schon überzeugt, daß ich davon befallen sei. Ich saß eine Weile völlig erstarrt vor Schrecken; dann las ich in stiller Verzweiflung die folgenden Seiten. Ich kam zum Typhus, las seine Merkmale, und nahm sofort wahr, daß ich das Nervenfieber habe, daß ich es bereits seit Monden haben müsse, ohne eine Ahnung davon gehabt zu haben. Ich war nun in der Tat neugierig, was mir wohl sonst noch fehlen möchte; so kam ich zum Veitstanz; wie ich nicht anders erwartet hatte, hatte ich den auch. Jetzt interessierte mich mein ganz eigentümlicher Fall, und ich beschloß nun, ihn bis auf den Grund zu untersuchen. So nahm ich denn die verschiedenen Krankheiten in alphabetischer Reihenfolge durch und fand, bei A anfangend, Agne (kaltes Fieber) und machte die Bemerkung, daß ich auch daran leide, und daß die Krisis in etwa 14 Tagen eintreten werde. Die Brightsche Krankheit hatte ich, zu meiner großen Erleichterung, nur in schwachem Grade, und in betreff dieser hätte ich noch manches Jahr leben können. Cholera dagegen hatte ich schon mit ernsteren Komplikationen, und Diphtheritis war mir, wie es schien, angeboren. Gewissenhaft drang ich bis ans Ende der 26 Buchstaben, und die einzige Krankheit, von welcher ich annehmen konnte, verschont zu sein, war Kindbettfieber.

Darüber war ich nun anfangs etwas verletzt; es schien mir dies eine Vernachlässigung! Warum hatte ich nicht auch Kindbettfieber? Nach einer Weile jedoch überkamen mich weniger streitbare Gefühle! In Erwägung, daß ich doch jede andere bekannte Krankheit hatte, wurde ich weniger selbstsüchtig in betreff des Kindbettfiebers und beschloß, darauf zu verzichten! Die Gicht auch, in ihrem bösartigsten Auftreten, hatte mich unbewußt in Beschlag genommen, und an Zymosis hatte ich seit meiner Knabenzeit gelitten!

Da nach Zymosis keine weiteren Krankheiten mehr angeführt waren, so schloß ich daraus, daß ich nun auch mit keiner weiteren behaftet sei.

So saß ich denn eine gute Weile und dachte nach. Ich fand, was für ein interessanter Fall ich in ärztlicher Hinsicht jedenfalls sein müsse und welch eine Akquisition ich z. B. für die Untersuchung in einer Klinik abgeben würde. Die Studenten würden nun nicht mehr nötig haben, zu ihrer Belehrung von einem Spital in das andere zu laufen, wenn sie mich hatten. Ich war ein ganzes Spital – ich ganz allein. Alles, was sie fernerhin zu tun haben würden, wäre, mich anzusehen und nachher ihr Examen zu machen.

Dann interessierte es mich, zu erfahren, wie lange ich überhaupt noch zu leben haben würde. Ich fühlte meinen Puls – zuerst konnte ich gar keinen Puls bei mir finden. Dann schien er plötzlich mit Schlagen anzufangen. Ich zog meine Uhr heraus und zählte. Er machte 147 Schläge in der Minute! Dann wollte ich den Herzschlag prüfen; ich fand mein Herz nicht! Es hatte aufgehört zu schlagen! Ich bin seither zu der Ansicht gekommen, daß ich damals doch wohl ein Herz besessen haben muß, welches schlug – aber ich kann nicht dafür einstehen. Ich befühlte meine ganze Vorderseite von dem Teil an, den man züchtig „Taille“ nennt, bis zum Kopf, strich an den Seiten und außerdem ein Stück den Rücken hinauf, aber ich konnte nichts von einem Herzen weder fühlen noch hören. Dann versuchte ich, meine Zunge zu besehen, streckte sie heraus, soweit ich konnte, und machte, um schärfer zu sehen, ein Auge zu. Ich konnte nur die Spitze sehen, und das einzige, was ich aus dieser Untersuchung mit Gewißheit schöpfte, war, daß ich das Scharlachfieber hatte.

Als gesunder, glücklicher Mann hatte ich dieses Lesezimmer betreten, als ein elender, gebrochener Patient kam ich wieder heraus.

Ich beschloß zu meinem Arzte zu gehen. Er ist ein alter Kamerad von mir; er pflegt mir den Puls zu fühlen, die Zunge zu besehen und mit mir vom Wetter und andern Allotrias zu sprechen, wenn ich zu ihm komme und meiner Einbildung nach krank bin, und das alles ganz umsonst.

So dachte ich denn: diesmal, Alter, will ich dir auch einen Gefallen tun und dich heimsuchen. Was ein Arzt braucht, sagte ich mir, das ist Schulung. Er soll mich haben. An mir allein wird er so viel Erfahrungen machen können wie an siebzehnhundert gewöhnlichen Patienten, die nur eine oder höchstens zwei Krankheiten haben.

So ging ich denn geradenwegs zu ihm. Als er mich sah, fragte er: „Nun, was fehlt dir diesmal?“ worauf ich ihm erwiderte: „O, ich will dir deine Zeit nicht stehlen, alter Junge, mit Aufzählung all der Übel, mit denen ich behaftet bin. Das Leben ist kurz, und du könntest sterben, ehe ich mit der Aufzählung zu Ende wäre. Aber ich will dir sagen, was ich nicht habe! Das Kindbettfieber habe ich nicht! Warum ich diese Krankheit nicht bekommen habe, das kann ich dir nicht sagen – aber es ist nun einmal Tatsache, daß ich sie nicht habe, nie gehabt habe. Aber jede andere Krankheit habe ich.“

Dann erzählte ich ihm, wie ich zu der Entdeckung gelangt sei.

Da hieß er mich den Mund öffnen und sah mir in den Hals hinab; dann packte er mich beim Handgelenk und schlug mir auf die Brust, als ich es am allerwenigsten erwartete – eine recht feige, hinterlistige Art nenne ich das einem Todkranken gegenüber –, dann stieß er seinen Kopf gegen meine Rippen. Hierauf setzte er sich nieder und schrieb mir ein Rezept auf, faltete es zusammen und gab es mir. Ich steckte es in die Tasche und ging fort.

Ohne es anzusehen, ging ich damit zu dem nächsten Apotheker. Der Mann las es, dann gab er es mir zurück und sagte, er könne das nicht machen.

Ich fragte ihn: „Sind Sie Apotheker?“ Er sagte darauf: „Ja, ich bin Apotheker. Wenn ich eine Restauration, verbunden mit Familienpension, hätte, so könnte ich Ihnen vielleicht dienen. Da ich nur Apotheker bin, so ist es mir unmöglich!“

Ich las nun das Rezept. Es lautete:

„1 Pfund Beefsteak mit ½ Liter Bier, alle sechs Stunden.
Ein Spaziergang von 4 Stunden jeden Morgen;
Schlafengehen präzis 11 Uhr jede Nacht;
Und NB. stopfe deinen Kopf nicht mit Sachen voll, die du nicht verstehst.“

Ich befolgte diese Vorschriften, und das Ergebnis war, daß ich damals vom sichern Tod errettet wurde und bis auf den heutigen Tag am Leben bin.

Im gegenwärtigen Falle aber – um wieder auf die patentierten Leberpillen zurückzukommen – hatte ich wirklich die Symptome ohne alle Frage; das Hauptsächlichste darunter war „eine allgemeine Abneigung gegen irgendwelche Art Tätigkeit“.

Was ich in dieser Hinsicht leide, kann keine Zunge aussprechen. Von meiner frühesten Kindheit an habe ich darin ein wirkliches Martyrium ausgestanden. Während meiner Knabenjahre verließ mich das Übel kaum einen Tag. Man wußte damals nicht, daß ich an der Leber litt. Die ärztliche Wissenschaft war damals noch nicht so weit vorgeschritten wie heutzutage; daher nannte man mein Übel einfach „Faulheit“! „Verfluchter Bengel!“ pflegte man mir zu sagen, „steh‘ auf und tue etwas für deinen Lebensunterhalt! Marsch, vorwärts!“ – Man wußte eben nicht, daß ich krank war!

Und man gab mir keine Pillen – nein, man gab mir eins an den Kopf. Und, so seltsam dies erscheinen mag, diese Ohrfeigen kurierten mich oft wunderbar schnell, wenigstens für eine Zeitlang. Ich erinnere mich, daß damals eine einzige solche Ohrfeige eine größere Wirkung auf mein Leben ausübte – denn ich raffte mich in der Regel rasch auf, um sofort zu tun, was man von mir begehrte – als heutzutage eine ganze Schachtel voll Pillen. Man weiß ja – es geht oft so – diese altväterlichen Hausmittel sind manchmal viel wirksamer als der ganze Apothekerkram.

So saßen wir noch eine weitere halbe Stunde beisammen und beschrieben uns gegenseitig unsere Krankheiten. Ich setzte Georg und William Harris auseinander, wie mir zumute sei, wenn ich morgens aufstehe, und William Harris erzählte uns, wie es ihm beim Zubettgehen zumute sei – und Georg stand am Ofen und gab uns eine köstliche Vorstellung zum besten, durch die uns recht anschaulich vergegenwärtigt wurde, wie er sich während der Nacht befinde.

Georg bildete sich nämlich ein, er sei auch krank; aber ich versichere, es ist absolut nichts daran.

In diesem Augenblick klopfte Frau Poppets an unsere Tür mit der Frage, ob es uns beliebe, zu Nacht zu speisen. Wir lächelten einander traurig an und erwiderten, es wäre vielleicht doch besser, wenn wir versuchten, einen Bissen hinunterzuwürgen. Harris namentlich meinte, etwas Nahrung im Magen halte manchmal die Krankheit im Schach. So brachte denn Frau Poppets das Essen herein; wir gingen zu Tisch und schnipselten uns etwas Beefsteak mit Zwiebeln und etwas Rhabarbertorte ab.

Ich muß damals wirklich recht schwach gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich nach Verlauf einer halben Stunde durchaus kein Interesse mehr an dem Essen hatte, was bei mir etwas ganz Ungewöhnliches ist, und daß es mich auch nicht nach Käse verlangte.

Nachdem wir diese Pflicht erledigt, füllten wir unsere Gläser aufs neue, zündeten die Pfeifen wieder an und versenkten uns nochmals in die Erörterung unseres Gesundheitszustandes. Was uns eigentlich fehlte, darüber war keiner von uns im klaren, nur darüber waren wir einer Meinung, daß, wie unsere Krankheit auch heißen möge, die Ursache unfehlbar Überanstrengung sei.

Aus: Jerom K. Jerome, Drei Männer im Boot – Vom Hund ganz zu schweigen

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