Die Sonnenblume

Groß, gelb, mit braunem Inneren leuchtet sie vom Balkon. Stolze 1,80 m. Spaziergänger bleiben stehen, werfen einen Blick auf das Prachtexemplar, gehen weiter. Die Nachbarin sagt: „Des isch oi schöne Blum, d auf ihrem Balko wächsch.“

Sonnenblume
Sonnenblume leuchtend gelb-braune Pflanze, von Ungeziefer bereinigt.
Mit Luminar, nicht in Wirklichkeit

Es fing ganz unscheinbar an. Im März. Eine Meise hatte auf der Flucht einen Sonnenblumenkern fallen lassen. Genau in den Blumenkübel. Hier begann ein unscheinbares Wirken.

Langsam, Tag für Tag ein klein wenig mehr, entwickelte sich ein Stängel, bald waren die Keimblätter zu einfach, zu unscheinbar und konnten die Pflanze nicht mehr mit den nötigen Wachstumsstoffen ernähren. Die ersten Blätter bildeten sich heraus, erst Daumengroß, dann wie eine Handfläche, dann riesige, grün-braune Lappen. Oben wuchsen dicke Blätter und unten gammelten die Alten faulig weg. Der Stängel war fast einen Zentimeter dick und haarig bepelzt.

Eine stattliche Größe hatte nun die Sonnenblume und ganz langsam bildete sich die Blüte heraus. Erst grün geschlossen, dann groß gelb leuchtend, in der Mitte braun. Recht abrupt änderte sich nun die Fauna. Waren bisher nur Hummeln, einige Bienen und ganz selten Wespen zu Gast, so schwirrten auf einmal Schwärme von Fliegen um die Blüte herum, in der Dunkelheit flatterten nun häufiger Motten, verstärkt machten sich Käfer und Wanzen breit. In den gelben Zungenblüten siedelten Spinnen.

Von weiten gesehen war die Pflanze ein großartiger Anblick. Leicht konnte man sich täuschen lassen. Aus der Nähe war sie das Zentrum einer Ungezieferkolonie. Widerliche kleine Fliegen verließen immer öfter die spärliche Nahrungsquelle, suchten kräftigere Nahrung in der Wohnung. Auch die Spinnen gingen auf Wanderschaft. In die falsche Richtung. Von ebenerdig lebenden Sonnenblumenbesitzern ist von der Faszination dieser Pflanzen auch auf Mäuse und sogar Ratten berichtet worden.

Der Schluss lag nahe. Eine Pflanze mit so einer unseligen Aura, Kristallisationspunkt für Ungeziefer aller Art, musste verschwinden. Doch das war leichter gesagt als getan. Mit dem Wachstum in die Höhe begann auch ein Wachstum in die Tiefe. Anders als in botanischen Büchern beschrieben, bildete diese Sonnenblume keine Pfahlwurzel aus, sondern wucherte in die Breite gehend, den Blumenkübel zu. Mit durchaus schädlichen Folgen für eine im gleichen Kübel wachsende Kletterrose – wurde dieser doch peu a peu das Wasser abgegraben.

„Warum hend Sie noh d schöne Sonnenblum herausgerisse?“, wollte meine Nachbarin wissen.

„Die war vollr Ungeziefr, hajo, so isch des!“

„Ah joo, des dachde i mir. Abr höret Sie mol, d cdu isch au nemme des, was sie mol war, sie versuchd immr mehr Sonnenblum z werde.“

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